Freitag, 9. Dezember 2011

Verkehrte Welt


Gerade sitze ich mit drei Mädchen in der Mädchenstunde um einen Tisch. Wir sind mit einer Bastelarbeit beschäftigt. Gemeinsam wollen wir kleine Laternen gestalten, in welche man später ein Teelicht hineinstellen kann. Die neunjährigen Mädels sind ganz eifrig dabei die aufgedruckten Krippenfiguren mit Buntstiften auszumalen. Sorgfältig und geschickt setzen sie einen Strich nach dem anderen. Tia Christiana schaut an unserem Tisch vorbei und lobt anerkennend die Arbeiten der Mädchen. Dann wirft sie einen Blick zum Tor hinaus und meint zu mir: „Oh es fängt an zu regnen. Ich geh schnell mal meine Wäsche abhängen!“ Lächelnd verlässt sie den Kindersaal. Verwundert stelle ich fest, dass in diesem Moment drei Mädchenköpfe in die Luft sausen und zum Tor hinausstarren. Sekunden später springen sie von ihren Plätzen auf, raffen ihre Bastelsachen zusammen und rufen uns Mitarbeiterinnen nur zu: „Wir müssen schnell unsere Wäsche hereinnehmen! Es fängt an zu regnen!“ Dann rennen sie hinaus auf die Straße und verschwinden in den verwinkelten Gassen der Favela. Was für eine Aufgabe: Mit nur neun Jahren sind sie bereits für die Wäsche ihrer Familien zuständig. Viele der Mädchen übernehmen bereits in diesem frühen Alter die Verantwortung für die jüngeren Geschwister und den Haushalt. Was für eine schwere Last!

Nach der Kinderstunde

Die Kinderstunde der Kleinen ist gerade zu Ende und die meisten Kinder verlassen springend und hopsend den Kindersaal. Duda steht noch auf der Straße als ich hinauskomme. Sie ist ca. zweieinhalb Jahre alt, sehr klein und ziemlich verwahrlost. Sie ist die jüngste Schwester von Joan-Vitor (vgl. letzten Rundbrief). „Tia!“ (Tante), ruft sie und streckt mir ihre dreckigen Ärmchen entgegen. Ich nehme sie auf den Arm und frage sie, ob ich sie nach Hause bringen soll. Sie nickt. So laufe ich mit ihr die Straße entlang, während sie ihr kleines Köpfchen an meine Schulter drückt und sich an mich anschmiegt. Ihre Cousine Jenny hat uns nun entdeckt und möchte ebenfalls auf meinen Arm. So laufe ich bald mit zwei Kindern auf den Armen die Straße hinunter. Vor ihrem Haus angekommen, hocke ich mich hin, lasse sie herunter und sitze noch einen Moment bei ihnen, bevor ich mich auf den Heimweg mache. Doch Jenny und Duda laufen mir hinterher. Sie wollen nicht zu Hause sein, sie wollen bei mir bleiben. Immer wieder sage ich ihnen, dass sie nach Hause zurückgehen sollen, aber sie springen um mich herum und betteln, mit mir kommen zu dürfen. Ernstes Zureden und ein erneutes Heimbringen und Übergeben an die Mutter klärt dann die Situation. Und mir blutet das Herz, sehe ich doch, wie sehr sich diese Kinder nach wahrer Liebe und Annahme sehnen.

In den Dreck der Favela

Gerade bin ich am Zuschneiden der Sterne, die wir als Dekoration für den Kindersaal basteln wollen, da fällt mein Blick, wie so oft, auf die Favela unter unserem Fenster. Favela, denke ich, dieser Begriff steht wir Dreck und Müll, Gestank und offene Abwasserkanäle, für Enge, für dreckige und verwahrloste Kinder, für eiternde und schlecht verheilende Verletzungen, für Süchte aller Art und Armut. In diesem Moment wird mir eines bewusst: wie oft gleichen unsere Herzen doch einer Favela. Wie oft sind sie voll vom Dreck und Müll unserer Sünden, vom Gestank unserer Selbstsucht und unseres Egoismus, von Herzensenge gegenüber anderen Menschen, von schlecht verheilten und eiternden seelischen Verletzungen, von Unvergebenheit, Süchten aller Art und von geistlicher Armut. Ja, denke ich, wir tragen oft eine Favela in uns. Und ausgerechnet in den Schmutz und den Müll, den Gestank und die Armut kommt Jesus und spricht: „Siehe ich mache alles neu!“

Es grüßen euch herzlich und wünschen euch einen gesegneten 3.Advent,
eure Miriam und Robbe

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